Direkt zum Inhalt
Merck
HomeÜber unsStoriesHaben die Hitze im Griff: Glasbläser für die Wissenschaft

Haben die Hitze im Griff: Glasbläser für die Wissenschaft

Glasfläschchen und Bechergläser werden in Serie gegossen. Maßgefertigte Glaswaren für wissenschaftliche Zwecke werden hingegen von hochqualifizierten Glasbläsern in Handarbeit hergestellt und ausgebessert – ein Prozess, bei dem Funken sprühen, es knallt und die Anspannung hoch ist.

Ein Glasbläser richtet eine Flamme zielgerichtet auf den Hals eines Rundkolben, der auf einer Werkbank steht. Der Glasbläser trägt als Schutzkleidung eine Spezialjacke, Handschuhe und einen Gesichtsschutz.

Mike D'Acquisto II, ein wissenschaftlicher Glasapparatebauer, richtet die Flamme auf den Hals eines Rundkolbens.

24. Februar 2023 | Lesezeit: 5 Minuten

Wie Fackeln lodern Flammen aus den Gasbrennern, Glasbruchstücke donnern krachend in Entsorgungseimer und Künstler streifen sich in der Manier von Kreuzrittern ihren Gesichtsschutz über. Zugeknöpft bis oben ähneln die Glasbläser in ihrer silbrig glänzenden Zunft Raumfahrern. Die Schutzjacken halten mit ihren Kevlarfasern Temperaturen von bis zu 1600° C stand.

Die Glaswerkstattt von Merck in Milwaukee, Wisconsin, USA, wartet mit allen Elementen auf, die eine lebendige Show versprechen. Und wahrhaftig – das ist sie auch!

Ein Team von sieben Glasbläsern entwirft, fertigt und repariert maßgeschneiderte wissenschaftliche Glasapparate in allen Formen und Größen – von über einen Meter hohen Destillationssäulen bis zu kleinformatigen Glaswaren nicht größer als eine Handfläche. Wissenschaftler – zumeist Chemiker – nutzen spezielle Glasgeräte, um die Temperatur und die Tropfgeschwindigkeit bei der Synthese neuer Moleküle zu kontrollieren. Glaswaren gehören zur essenziellen Ausrüstung von Laboren, ohne sie würde der Betrieb nicht laufen.

„Die Chemiker sagen uns, was sie brauchen, und die Aufgabe des Glasbläsers besteht dann darin, diese Anforderungen in die Tat umzusetzen“, sagt Jason Noll, der Leiter der Glaswerkstatt.

Ein Rundkolben auf einem Labortisch mit Schläuchen, die in alle Richtungen abgehen. Im Kolben befindet sich eine gelbliche Flüssigkeit.

Ein Rundkolben auf einem Labortisch in Sheboygan, WI.

Vor einigen Jahren bekam die Glaswerkstatt in Sheboygan aus dem chemischen Labor eine Anfrage nach einem Rundkolben in der Größe eines Yogaballs – kein ungewöhnlicher Auftrag, stellen die Glasbläser doch jede Woche Kolben mit 50 und 72 Liter Fassungsvermögen her. Der speziell angefertigte Kolben war die perfekte Ergänzung für das auftraggebende Labor, um dessen Syntheseleistung zu erhöhen, und hielt jahrelang einer Unmenge an Experimenten mit Flüssigkeiten, Metallklammern und ausgefeilten Versuchsaufbauten stand.

Eines Tages erlitt der Hals des Kolbens beim Abbau einer Destillationssäule einen Bruchschaden, was im Laboralltag tatsächlich nicht selten vorkommt. So unterschiedlich die Materialbrüche, so unterschiedliche die Konsequenzen. In diesem Fall kam die Laborarbeit zum Stillstand. Ein Ersatz war nicht zur Hand. Das Laborteam überlegte hin und her, wie eine Ersatzlösung aussehen könnte. Die Anschaffung eines neuen Kolbens würde einen wochenlangen Zeitverlust bedeuten. Also besann sich das Labor auf die Glaswerkstatt von Merck, die den Kolben wesentlich schneller reparieren konnte. Daraufhin wurde der beschädigte Kolben kurzerhand in die Werkstatt transportiert mit der Bitte um zügige Reparatur.

Nach Erhalt packt Al Timmermann vom Wareneingang der Glaswerkstatt die Flasche vorsichtig aus und begutachtet den Schaden. Aus einem Sortiment von über 500 Teilen wählt er die Stücke aus, die für die Reparatur benötigt werden. Mike D'Acquisto II, ein erfahrener Glasapparatebauer, holt den Eimer mit den Teilen ab und bringt ihn an seinen Arbeitsplatz. Er hievt den riesigen Rundkolben auf seine Drehbank, feuert an und erwärmt den Kolben langsam.

„Würde ich das gute Stück ohne vorheriges Aufwärmen direkt bearbeiten, würde es durch den Wärmeschock zerbrechen – ein Fehler, der schnell mal 1.200 Dollar kostet“, erklärt er.

Nach dem Anwärmen kehrt D'Acquisto an seine Werkbank zurück, klappt sein Schutzvisier runter und macht sich an die Arbeit. Auf Knopfdruck beginnt der Kolben, sich auf der Drehbank gleichmäßig zu drehen. Zwei Flammen lodern auf. Er richtet sie auf eine Stelle dicht am Hals des Kolbens. Auch wenn es nur ein kleiner Bruch ist, muss er doch den gesamten Hals abtrennen.

Ein großer Rundkolben dreht sich auf einer Drehbank, während D'Acquisto die Intensität der Hitze mithilfe mehrerer Feuerquellen einstellt.

Dieser Schritt erfordert Geduld. „Selbst wenn man denkt, dass die Zeit reif wäre, ist der richtige Zeitpunkt einfach noch nicht gekommen“, sagt er. Wenn man versucht, den Hals zu früh vom Unterteil zu trennen, kann dadurch der gesamte Kolben Schaden nehmen.

Mit einem Graphitstab formt er den Hals des Kolbens neu, verkleinert ihn auf den Durchmesser der von den Chemikern gewünschten neuen Muffe und trennt die beiden Teile langsam voneinander. Er glättet die zurückbleibende Öffnung, um sicherzustellen, dass die Dicke des Glases an der Öffnung beziehungsweise das Wandgewicht überall gleich bleibt. Ungleichmäßige Wandgewichte sorgen für Schwachstellen im Glas und sind für Glasbläser ein Albtraum.

D'Acquisto wartet geduldig, bis das Glas die richtige Temperatur erreicht hat, und entfernt dann den beschädigten Hals des Kolbens.

Nun nimmt er den neuen Hals für den Rundkolben, erhitzt ihn langsam und wiederholt den vorherigen Arbeitsschritt in umgekehrter Reihenfolge. Noch ein paar Flammenberührungen, und Minuten später ziert ein neuer Hals den Kolben.

Damit ist der Reparaturvorgang fast beendet, aber einer der stressigsten Schritte steht noch bevor. Und dieser hat nichts mit Feuer und Flammen zu tun. D'Acquisto muss den Kolben noch transportieren, bevor er abkühlt, um ein Zerbersten des gesamten Gefäßes zu verhindern.

Er fasst mit seinen Schutzhandschuhen direkt in die Flammen, um sie zu erhitzen, und greift sich dann den Kolben. Auf Kommando öffnet sein Kollege die Tür des massiven Ofens, während er mit dem Kolben vorschichtig die Werkstatt durchquert. D'Acquisto schiebt den Kolben in den Ofen und schließt schnell den Deckel. Dort im Ofen kann das Glasgefäß über Nacht weiter aushärten. Am nächsten Tag wird Timmermann das begehrte Stück sorgfältig verpacken und zurück in das Labor transportieren lassen, wo der Kolben schon sehnsüchtig erwartet wird.

Bald wird der Rundkolben wieder seinen Platz auf dem Labortisch einnehmen und für spannende chemische Experimente im Einsatz sein. Es wird bestimmt nicht lange dauern, bis sie einen weiteren Glasapparat, eine Reparatur oder eine Maßanfertigung in Auftrag geben. Und die Glaswerkstatt wird wieder mit Feuer und Flamme ihren Teil zur nächsten Erfolgsgeschichte beitragen.


Über die Glaswerkstatt 

Die Glaswerkstatt in Milwaukee, Wisconsin (USA) dient als Kompetenz- und Innovationszentrum für das Design und die Herstellung von Glaswaren für chemische Labore weltweit. Dort werden die vielfältigsten Glasapparate entworfen und gefertigt, darunter mehrfach ummantelte Kondensatoren, silberummantelte Säulen und vieles mehr.

Melden Sie sich an, um fortzufahren.

Um weiterzulesen, melden Sie sich bitte an oder erstellen ein Konto.

Sie haben kein Konto?